Plädoyer für die Waldorfschule

Diese Woche wurde mein Zweitgeborener in die hiesige Waldorfschule eingeschult. Ein schöner, magischer und großer erster Schultag im Leben meines Sohnes, dessen Schwester bereits die Waldorfschule besucht. Die Schulgemeinschaft hat den Jungen und die anderen Erstklässler mit Gesang und guten Wünschen empfangen, stolz ist er durch das Sonnenblumentor gegangen und seiner Lehrerin und den zukünftigen Mitschülern begegnet.

 

So konnte man diesen Eintritt in eine Lebensphase, die sehr lang und prägend sein wird, wohl kaum würdevoller begehen. Jedes einzelne Kind hatte seinen großen Moment, als es die Schwelle vom Kindergarten in die Schule übertrat, etwas hinter sich lassend und etwas Neues beginnend. Allein die Feierlichkeit, mit der der erste Schultag an einer Waldorfschule zelebriert wird, die Bedeutung die einem solchen Tag beigemessen wird, sagt einiges über diese Schule aus. Das Kind im Mittelpunkt, der Respekt und die Anerkennung für Lehrer und Schüler, die Bedeutsamkeit, die dem ersten Schultag beigemessen wird, all dies berührt und begeistert mich.

 

Beide Kinder waren bereits im Waldorfkindergarten und hatten dort die denkbar besten Jahre verbracht. Nun liegt diese Zeit hinter uns und ich mache mir Mal wieder Gedanken, was genau mich an dieser Waldorfpädagogik so überzeugt. Sicherlich weiß der ein oder andere Leser recht wenig über Waldorfschulen, sodass ich versuchen möchte, diesen Blogbeitrag nicht zu sehr in die Tiefe gehen zu lassen, einen groben Überblick über Waldorfschule zu geben und vor allem meine subjektive Sicht und Fürsprache kund zu tun. Daher ist dies vor allem ein persönliches Plädoyer für Waldorfpädagogik und schon gar nicht eine Aussage gegen öffentliche Schulen und Kindergärten, deren Innenleben ich nur bedingt beurteilen kann.

 

Kurze (sachliche) Abhandlung

 

Waldorfpädagogik ist der pädagogische Entwurf Rudolf Steiners, dem Begründer der Anthroposophie. Fundament dieser Reformpädagogik ist dabei meinem Verständnis nach die Fragestellung, was ein Kind an Grundlagen und Qualitäten in die Welt mitbringt und wie dieses Kind, pädagogisch begleitet, im Laufe seiner Schulzeit zur freien Selbstbestimmung gelangen kann. Die Anthroposophie ist eine Anregung, einen Weg des Erkennens zu beschreiten, ein Weg, der die eigene geistige Kraft im Menschen aktiviert und dessen Selbstentwicklung vorantreibt. Bedeutsam ist, dass es in jedem Menschen ein Geistiges gibt und allen Dingen vorerst unsichtbar Wirkendes zugrunde liegt, das es zu entdecken und erforschen gibt.

 

Foto: public domain

 

Rudolf Steiner gründete 1919, basierend auf dem anthroposophischen Menschenverständnis, für die Kinder der Arbeiter der Zigarrenfabrik Waldorf Astoria die erste Waldorfschule. Heute gibt es weltweit über 1000 Waldorfschulen, das hundertjährige Jubiläum wird gefeiert.

 
Auch wenn die Anthroposophie als über hundert Jahre alte Weltanschauung die gewissermaßen geistige Basis der Waldorfpädagogik ist, so hat sich diese Pädagogik selbst im Laufe der Jahrzehnte immer wieder verändert, angepasst und neu erfunden und ist in vielen Dingen oft auch moderner Vorreiter gewesen. Es kann zwar auch heute per se keine Waldorfschule ohne Anthroposophie geben, diese wirkt aber meist eher im Großen und Ganzen, als im Detail überaus präsent zu sein. Andererseits gibt es auch ganz typische, ohne Anthroposophie undenkbare schulische Aktivitäten, siehe z.B. die Bewegungskunst Eurythmie, Zeugnissprüche o.ä.

 

Anthroposophie ist nie Gegenstand des Unterrichtes, d.h. es findet keine weltanschauliche Unterrichtung oder dergleichen statt. Unbestritten aber ist die Anthroposophie eine Weltanschauung, die auch diskutiert werden darf, die Schulen selbst sind allerdings grundsätzlich überkonfessionell. Waldorfschulen sind Privatschulen, unterliegen aber gerade was die Bestimmungen über den grundsätzlichen Auftrag der Schule und die generellen Bildungs- und Erziehungsziele von Schule anbelangt dem Schulgesetz, so wie jede andere Schule auch. In der Ausgestaltung sind sie dabei frei.   

 

Wie sieht so eine Waldorf-Schullaufbahn aus?

 

In den ersten 8 Jahren werden die Schüler in der Regel von einem Klassenlehrer begleitet. Hierzu heißt es beim Bund der Freien Waldorfschulen: Inzwischen ist wissenschaftlich gut erforscht, dass eine vertrauensvolle Beziehung die wichtigste Basis für das Lernen ist. So können Kinder sich in einer Gemeinschaft, die von Beständigkeit und Rhythmus geprägt ist, gut und gesund entfalten. Um ihnen darin eine verlässliche Stütze zu sein, begleitet ein Waldorf Klassenlehrer „seine“ Klasse nach Möglichkeit sechs bis acht Jahre lang und unterrichtet jeden Morgen mindestens die ersten beiden Stunden eines Schulvormittags. In wechselnden „Epochen“ bringt er den Schülern jeweils über mehrere Wochen den Stoff unterschiedlicher Themengebieten nahe. Dabei lernt er seine Schüler sehr gut kennen und kann individuell auf ihre Stärken und Schwächen eingehen. [1]

 

Es wird dabei in Unter- (Klasse 1.-4) und Mittelstufe (Klasse 5.-8) unterschieden. Ab der 9. Klasse beginnt die Oberstufe, die mit 12 Jahren bzw. einem 13. Schuljahr bei Abitur endet. Der Lehrplan ist dabei ein sich ständig entwickelnder Rahmenplan auf Basis des sogenannten „Richter-Planes“, beispielhaft hier einmal der Lehrplan der Flensburger Waldorfschule.

 

Nun haben andere bereits zahlreiche und umfassende Bücher  darüber geschrieben, was in 12 Jahren Waldorfschule alles geschieht, sodass es wenig Sinn macht, hier durch die einzelnen Jahre zu führen. Wer einen wirklich detaillierten Einblick bekommen möchte, dem lege ich auch die Langzeit-Dokumentation "Guten Morgen, liebe Kinder" von Maria Knilli [2] sehr ans Herz, die 8 Jahre eine Waldorfklasse begleitet hat.

 

Warum jetzt also Waldorfschule?

 

Laut Bund der Freien Waldorfschulen wollen Waldorfschulen gleichermaßen intellektuelle, kreative, künstlerische, praktische und soziale Fähigkeiten bei den Kindern und Jugendlichen entwickeln. Vom ersten Schuljahr an lernen Waldorfschüler zwei Fremdsprachen. Jungen und Mädchen stricken, nähen und schneidern gemeinsam in der Handarbeit und sägen, hämmern und feilen zusammen im Werkunterricht. In jeder achten und zwölften Klasse studieren sie ein anspruchsvolles Theaterstück ein und setzen sich in einer großen Jahresarbeit mit einem Thema ihrer Wahl in Theorie und Praxis auseinander. Die Fächer Gartenbau und Eurythmie sind feste Bestandteile des Lehrplans. [3]

 

Wenn ich in die Welt schaue, dann befindet sich unsere Gesellschaft in einer Phase, in der die Menschen zunehmend verkopfter und von den unmittelbaren Prozessen entkoppelt sind und es gilt, ebenso einen guten Umgang mit Digitalisierung, künstlicher Intelligenz, Robotik und medialem Überfluss als auch mit den sozialen und politischen Fragen dieser Zeit zu finden. Ich finde es daher außerordentlich bedeutsam, dass Waldorfschüler mit allen Sinnen und vollem Körpereinsatz lernen und schrittweise begreifend durch eigenes Durch- und Erleben Wissen und Umgang in diversen Themenbereichen erlangen. In dem die Schüler, durch den ganzheitlichen pädagogischen Ansatz beschult, auf verschiedenen Ebenen Kompetenzen erlangen und sowohl handwerklich als auch körperlich, geistig und auf Gefühlsebene Sicherheit gewinnen, können Sie als junge Erwachsene mit ausreichendem Selbstbewusstsein und guter Kritikfähigkeit den komplexen Herausforderungen dieser Zeit begegnen.    

 


Foto: CC0 creative commons

Die Methodik der Waldorfpädagogik ist vor allem, sinnliche Erfahrungen zu machen. Beispielsweise die Natur wird völlig anders und umfassender wahrgenommen, wenn man in ihr tätig ist und sie erlebt, statt über ein Biologiebuch reines Wissen anzuhäufen. Selbstverständlich muss, wer ein guter Biologe werden möchte, an irgendeinem Punkt auch das sachliche Wissen aufnehmen. Dies ist aber, so empfinde ich es, viel einfacher, wenn man das Thema bereits facettenreich erlebt hat, wenn man durch die Aktivitäten in und mit der Natur ihr Inneres bereits wahrgenommen hat.

 

Mit der hier angelegten Begeisterung und dem Interesse lässt es sich in der Oberstufe oder später in Studium und Lehre mit guter Grundlage den unterschiedlichsten Themen zuwenden. Dieses Prinzip ist also grundsätzlich auf alle Fachbereiche übertragbar. Intrinsische Motivation als pädagogisches Kernanliegen sozusagen. Das ist tatsächlich sehr moderner und aktuellster Stand der Forschung. 

Zudem überzeugt mich ganz besonders das Bestreben, die Schüler in ihrer Empathie und in ihrem Gemeinsinn zu stärken und der Kunst als Erziehungsmittel einen hohen Stellenwert einzuräumen, besonders in einer Zeit, in der viele Menschen ästhetisch und seelisch verrohen und abstumpfen. Nicht zuletzt die derzeitige Renaissance von Xenophobie und Nationalismus zeigen uns, wohin eine solche Verrohung in der Gesellschaft führt. 

 

In der Waldorfschule wird gesungen, musiziert, Theater gespielt, rezitiert, gemalt und vieles mehr. Längst ist bekannt, wie wichtig ästhetische Bildung ist. Der Physiker, Naturphilosoph und ehem. Wirtschaftssenator Hamburgs, Klaus Michael Meyer-Abich, schreibt hierzu treffend:

 

"Ästhetische Erziehung als Bildung der Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit verstanden, ist die entscheidende Voraussetzung einer wahrnehmenden Verantwortung und verantwortlichen Wahrnehmung der natürlichen Mitwelt und unserer Umwelt. Wäre unsere ästhetische Urteilskraft nicht durch die Degeneration der Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit verkümmert, hätte es nicht im heutigen Umfang zu den gewalttätigen Zerstörungen durch das Industriesystem kommen können". [4]

 

 

Das Plädoyer

 

Zu sehen, wie selbstbewusst, kreativ, empathisch, verantwortungsvoll und tatkräftig die meisten Kinder bereits in den unteren Klassen sind zeigt mir deutlich, wie richtig diese Schulform für meine Kinder ist. Auch mir sind gelegentliche, etwaige Defizite beim Oberstufenstoff im Direktvergleich mit Gymnasien nicht unbekannt, allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass die in der Waldorfschule erlernten Fähigkeiten den Menschen im weiteren Leben sehr viel nutzen, möglicherweise auch sehr viel mehr, als das Erlangen reinen Wissens. Und in der Regel hat noch jeder Waldorfschüler, der es wirklich wollte, auch sein Abitur geschafft. 

 

In einer Atmosphäre von Kreativität, gelebtem Miteinander und Gemeinsinn und vor allem mit sehr wenig Druck aufzuwachsen, finde ich erstrebenswert und so begrüße ich, dass es bis in die Oberstufe hinein keine Noten gibt.

 

Ich bin überzeugt davon, dass man die Dinge nur wirklich verinnerlicht und lernt, wenn die Motivation aus einem selbst entsteht und so ist der bereits oben erwähnte Lehransatz, der eben jene intrinsische Motivation unterstützen soll, in meinen Augen eine elementar gute Sache an der Waldorfschule. Was für eine Leistung ist es für einen jungen Menschen, wenn der eigene Zeugnisspruch auswendig oder eine Theaterrolle erlernt wurde! Wie nah an der Arbeitswelt, in der so oft in Projekten gearbeitet wird, ist der Epochenunterricht und wie wertvoll eine Jahresarbeit, für die sich ein Jugendlicher über Monate in ein Thema vertieft hat, nicht ahnend, dass er hier womöglich, noch vor dem Universitätsbesuch, seine erste Hausarbeit verfasst hat. Interesse und persönliche Begeisterung statt Notendruck und Fixierung auf das Abitur, da bin ich überzeugt von!

 

Heile Welt

 

Kritiker werfen an diesem Punkt den Waldorfschulen vor, eine heile, an der Realität vorbeigehende Welt zu erschaffen. Das mag zum Teil stimmen. Aber ist es echt verwerflich, Kinder vor einer höchst abstrakten, rohen und teils elenden Welt so lang wie möglich zu bewahren? Die Welt ist ohne Frage abstrakt und es bedarf vieler scheinbar unmoderner Kulturtechniken und Grundlagen, um sich ihr in höherem Alter stellen zu können. Mich verwundert es daher gar nicht, wenn Mitarbeiter von Tech-Konzernen im Silicon Valley ihre Kinder auf die dortige Waldorfschule schicken und eine Handyabstinenz bis zur Pubertät befürworten.

 

Ist es nicht genau das, was Heranwachsende, frei nach Goethe, zu „edlen und guten Menschen“ werden lässt, indem man sie zuallererst das Schöne und Gute der Welt erleben und aufnehmen lässt und ihnen viel Zeit gibt, sich den komplexen und oft auch mit negativem behafteten Dingen anzunähern? Gerade weil Waldorfschüler erleben, wie wohltuend eine empathische, faire Gemeinschaft sein kann, gerade weil empfindliche Kinderseelen möglichst lange vom Dreck der Welt unberührt bleiben, können diese Menschen als Erwachsene meiner Meinung nach ein Leben leben, das sich positiv, konstruktiv und gut in einem Sinne auf die Gesellschaft auswirkt, wie sie es in ihrer Schulzeit bereits erfüllend und glücklich machend erfahren haben. Wer einmal lernt wie gut das Leben ist wird immer darum bemüht sein, sich und anderen Menschen Gutes widerfahren zu lassen.

 

Ja, es ist nichts schlechtes daran, Kinder nicht mit der vollen Wucht eines Systems zu konfrontieren, in dem sie zu funktionieren haben. Vielmehr sollte es die große Aufgabe derer, die sie begleiten sein, ihnen dabei zu helfen selbstbewusst, resilient, mutig, offenherzig und schöpferisch zu bleiben und diese Qualitäten weiter zu verbessern. Dann werden sie als Erwachsene im Leben mindestens gut zurechtkommen.

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut

Ich empfinde Waldorfschule gewissermaßen als Gegenentwurf zu einem System, indem auf Wissen statt Lebenserfahrung, auf "zügig dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen" statt "sein eigenes Leben kreativ zu meistern" gesetzt wird. 

 

Waldorfschule zieht mit Sicherheit keine Menschen für eine asoziale Gesellschaft heran. Landwirtschaftspraktikum und Klassenspiel statt G8, Freispiel und Handwerk statt Chinesisch Extrastunden nach Schulschluss, Miteinander statt Notenwettbewerb, Altruismus vor Egoismus.

 



Nicht selten habe ich ehemalige Waldorfschüler als selbstbewusste, verspielte und freigeistige Menschen erlebt, die ebenso nicht selten Unternehmer oder anderweitig initiative Menschen sind, fast immer aber soziale, optimistische und meist freundliche Wesen. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass unsere Welt mehr denn je genau solche Menschen braucht, um dem vorherrschenden Duckmäusertum dieser Tage, der Angepasstheit, der Vollkaskomentalität, Neid, Missgunst und dem "die da oben machen so und so" etwas entgegenzusetzen, das positiv wirkt und dem Individuum als auch der Gesellschaft zu einem Leben im Guten und in Sinnhaftigkeit verhilft.

     

Rudolf Steiner hat bei der Gründung der Waldorfschule in einer Ansprache die Lehrkörper dazu angehalten, Menschen der Initiative im Großen und Kleinen zu sein, Menschen mit Interesse an allem, die „nicht verdorren und versauern“. Von daher ist eine solche Schule, ganz gleich wie alt die pädagogische Basis ist, immer so zeitgemäß und gut wie die Menschen, die in ihr tätig sind und die diese innere Haltung auf ihre Schüler übertragen. In diesem Sinne und bei aller Begeisterung für die Schule meiner Kinder wünsche ich mir ganz besonders Lehrer, die sich diesen Worten verpflichtet fühlen, auf das meine Euphorie für die Waldorfpädagogik ungebrochen bleibt.  

 


[1] Quelle: Bund der Freien Waldorfschulen Homepage

[2] Quelle: www.guten-morgen-liebe-kinder.de

[3] Quelle: Bund der Freien Waldorfschulen Homepage

[4] Quelle: Ethik der Wissenschaften, Klaus Michael Meyer-Abich